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Bamberger Dom:Predigt zur Eröffnung des Heiligen Jahres am 29. Dezember 2024

Datum:
Veröffentlicht: 29.12.24
Von:
Erzbischof Herwig Gössl

Pilger waren sie – Josef, Maria und der zwölfjährige Jesus – als sie zum jährlichen Paschafest nach Jerusalem zogen. Und bei aller Legendenhaftigkeit, die manche Theologen heute aus den Evangelien im Allgemeinen und aus den Kindheitsgeschichten im Besonderen herauszulesen meinen, darf man doch gesichert davon ausgehen, dass Jesus mit seiner gläubigen jüdischen Familie diesen Pilgerweg Jahr für Jahr gegangen ist. 

Pilgern ist in! Viele Menschen machen sich auch heute auf, um auf zum Teil uralten Wegen einen Wallfahrtsort zu erreichen und unterwegs wichtige Erfahrungen zu machen und Erkenntnisse zu gewinnen: über sich selbst, über die Zusammenhänge des Lebens, sicher auch manche über Gott. 

Auch für den jungen Jesus wird diese Pilgerreise nach Jerusalem zu einem Ereignis, das ihn und seine Familie Vieles erkennen lässt: Wo er herkommt, wer er ist und wer in seinem Leben das Sagen hat. Und die Antwort auf alle drei Fragen ist: Gott! 

„Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“ Auf der Pilgerreise erkennt Jesus seinen Ursprung und seine Bestimmung. Und das in aller Einfachheit und Klarheit, die Kindern oft eigen ist. 

Auf einem Pilgerweg kann sich manches klären im eigenen Leben, auch bei Erwachsenen. Menschen können sich innere Kraftquellen neu erschließen, tief im Innersten verborgene, manchmal auch verdrängte oder einfach vergessene Gefühle und Erfahrungen können wieder an die Oberfläche kommen, auch Erfahrungen mit Gott. Die Entschleunigung, die einen Pilgerweg auszeichnet, ist eine wichtige Voraussetzung dafür. Plötzlich entdeckt man Dinge wieder, die eigentlich schon immer da waren im Leben, nur eben verdeckt durch die Sorgen des Alltags, durch den Kampf um die beste Position – in der Arbeit oder auch in der Familie. Plötzlich können Erinnerungen aufsteigen an Begegnungen, Lebenssituationen, Verhaltensweisen – auch eigene, gute und weniger gute, ja auch an persönliches Versagen und Schuld, also auch Bereiche des Lebens, die wir für gewöhnlich gut verstecken, am besten vor uns selbst. 

Alles kann da zum Vorschein kommen und längst nicht alles ist angenehm. Ja, ein Pilgerweg ist kein Spaziergang. Er kann ganz schön anstrengend werden – körperlich und seelisch. Wohl dem, der dann auch Gott in den Blick bekommt und sieht „welche Liebe uns der Vater geschenkt hat: Wir heißen Kinder Gottes und wir sind es.“ Diese Worte aus dem 1. Johannesbrief, die wir in der zweiten Lesung gehört haben, sind ein echter Lichtblick auf dem Weg. Ich darf mich voll Liebe angeschaut wissen von Gott, trotz all der dunklen Flecken, die ich mit mir durchs Leben schleppe. Ich darf in das Gesicht es menschgewordenen Gottessohnes blicken und entdecke in seinem Lächeln nichts Süffisantes, keine Häme oder Arroganz, sondern blanke, reine Liebe. So kann Verwandlung geschehen und Neuanfang; so wird aus dem anstrengenden Pilgerweg ein Weg der Hoffnung. 

Ich gehöre zur Familie der Gotteskinder, und diese Gewissheit gibt mir eine Hoffnungsperspektive über mein begrenztes Leben und über diese begrenzte Welt hinaus. Dabei kommen auch meine Schwestern und Brüder in den Blick, diejenigen, die meine Hilfe und Unterstützung brauchen. Wer eine Hoffnungsperspektive hat, der gibt so schnell nicht auf – sich selber nicht und auch nicht die anderen Menschen, auch nicht die anstrengenden. Wir alle gehören zu Gott und sind ihm gegenüber verantwortlich für das, was wir tun oder auch unterlassen. 

Als Pilger der Hoffnung sind wir neu gesandt in dieses Heilige Jahr. Nutzen wir diese vor uns liegende Zeit als Zeit der Vertiefung unseres Glaubens, der Erneuerung unseres Lebens in der Gemeinschaft der Kirche, als eine Zeit der Vergebung und Versöhnung untereinander. Gehen wir diesen anstrengenden Pilgerweg hin zu den Menschen mit einem grundsätzlichen Vertrauen, aber gehen wir auch den vielleicht noch herausfordernden Weg hinein in mein Inneres, in die innere Burg der Seele, wie das die heilige Teresa von Ávila nennt. Nur so können wir erfahren, dass da schon immer einer auf uns wartet, der unserem Leben Sinn und Halt gibt und der auch von uns gesucht und gefunden werden will in dem, was seinem Vater gehört. 

Mit uns auf dem Pilgerweg geht Christus. Sein Kreuz kündet von seiner Liebe. Er ist der Grund unserer Hoffnung.