Zum Inhalt springen

Jahresempfang Stadtkirche Nürnberg:Stadt ohne Kirchtürme? - Gesellschaft ohne Kitt?

Datum:
Veröffentlicht: 11.7.24
Von:
Herwig Gössl

Im Jahr 1925, also vor fast genau einhundert Jahren, hielt der damalige Weihbischof in Bamberg, Dr. Adam Senger, eine viel beachtete Rede in der Stadt Nürnberg. Anlass war damals der 500. Jahrestag der Heiligsprechung des heiligen Einsiedlers Sebaldus. Ein Auszug aus dieser Rede von Weihbischof Senger wird jedes Jahr am Fest von St. Sebald, am 19. August, im Stundengebet der Kirche gelesen. Manche der Aussagen lesen sich rührend und atmen den Geist der damaligen Zeit, etwa wenn von den Luftschiffen die Rede ist, die Menschen befördern oder von den Radiowellen die Kontinente verbinden und die als die neuesten Errungenschaften der Technik gepriesen werden. 

Zu Recht weist der Weihbischof damals darauf hin, dass ganz am Anfang der Geschichte Nürnbergs die Wallfahrt zum Grab des Heiligen steht.

Am Ende seiner Rede aber stellte Weihbischof Senger einige nachdenkliche Fragen: „Kann denn … jener mittelalterliche Mensch uns moderne Menschen etwas lehren? Wir leben in einer Zeit der materiellen Verindustrialisierung. Wir werden selber, kaum dass wir es ahnen, zu Maschinen. Unrast und Unruhe beherrschen unser Leben und unser Streben. Ist das wirklich das wahre Glück? Ist dies das Sehnen des Menschenherzens? Kann uns da nicht der einfache, schlichte, treuherzige Klausner belehren? War er nicht innerlicher, zufriedener, gereifter als der zerflatterte, unruhige, moderne Mensch? Und weiterhin: Adel der Gesinnung zeichnete Sankt Sebald aus. Tut das nicht heute uns allen Not? Edelsinn, Begeisterung für das Ideale, Selbstlosigkeit, das sind die Heilmittel für unsere in Materialismus versinkende Welt.“
Und Weihbischof Senger endet mit der Feststellung: „Solange noch die feinen Linien der Türme und der Chöre von Sankt Sebald der Silhouette der Stadt ihr charakteristisches Gepräge geben, so lange wird auch christliche Kultur in Nürnberg heimisch bleiben und ihr angestammtes Bürgerrecht nicht verlieren können.“

20 Jahre nach dieser Rede waren die meisten Kirchen der Stadt im Bombenhagel des 2. Weltkrieges zerstört worden. Die Silhouette der Stadt wurde geprägt durch Ruinen. Und die Ursache dieser Zerstörungen war ganz klar und eindeutig zu identifizieren in einem, politischen Regime, das ohne Verantwortung vor Gott und den Menschen agierte, dem grundlegende Menschenrechte egal waren und das einer Ideologie von Blut und Boden huldigte, welche fernab jeder christlichen Überzeugung angesiedelt war; einem Regime, das allerdings durch demokratische Wahlen legitimiert worden war und das auch durch einen Großteil der Bevölkerung gestützt und begeistert gefeiert wurde. Ja, der Edelsinn und die Begeisterung für das Ideale vieler, gerade junger Menschen wurden damals auf das Schändlichste missbraucht und in eine falsche Richtung gelenkt.

Man hat nach den Schrecken des Krieges und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die über 20 Millionen Menschen das Leben kostete, die Kirchengebäude wieder errichtet, sodass auch deren Türme wieder das Stadtbild prägten. Vor allem wurde vor 75 Jahren das Grundgesetz erarbeitet und in Kraft gesetzt, das sich bewusst in die Verantwortung vor Gott und den Menschen stellte und auf diese Weise Lehren zog aus den schrecklichen Erfahrungen von Gewalt und Diktatur.

Die polnische Trabantenstadt Nova Huta sollte nach dem Willen der kommunistischen Machthaber in den 60er Jahren errichtet werden als eine Stadt ohne Gott und deshalb ganz bewusst ohne katholische Kirche. Dieses Vorhaben wurde in dem mehrheitlich katholischen Land durch den unerschrockenen Einsatz der Gläubigen und des damaligen Krakauer Erzbischofs Karol Wojtila unterbunden. Die Kraft des christlichen Glaubens war schließlich ganz entscheidend beim Zusammenbruch der Kommunistischen Diktaturen in Osteuropa am Ende der 80er und Beginn der 90er Jahre.

Heute erleben wir in Polen, wie der christliche Glaube in atemberaubender Geschwindigkeit seine Bedeutung und Stellung in der Gesellschaft einbüßt. Und in unserem Land, das schon viel länger von Säkularisierungsschüben heimgesucht wurde, ist der christliche Glaube inzwischen vielen grundsätzlich verdächtig. An seine Stelle treten die Tempel des Marktes, welche inzwischen in manchen Städten das äußere Erscheinungsbild prägen und die Macht sowie den Einfluss weltweit operierender Großkonzerne symbolisieren. Was Leben ausmacht, das ist für viele messbar und berechenbar geworden, das schlägt sich nieder in der Gehaltsabrechnung und in dem, was man sich leisten kann. Der Bereich der Religion lässt sich in diesen Kategorien nicht fassen, und wo es doch versucht wird, wo Religion zur Verbesserung des Lifestyles oder für das Erreichen eines gesünderen, glücklicheren Lebens operationalisiert wird, dort ist für die gelebte Religion nichts gewonnen – und in der Regel für die Anhänger solcher Überzeugungen auch nicht.

In diesem Zusammenhang und aus diesem Grund warne ich auch davor, Sinn und Bedeutung von Religion und Kirche auf das zu reduzieren, was daraus für die Gesellschaft an positiven Nebeneffekten abfällt. Ja, Religion kann zum Kitt einer Gesellschaft werden. Und ja, Demokratie braucht Religion, wie das der Soziologe Hartmut Rosa provokant formulierte. Aber eben Religion als das, was sie ist: Eben nicht Mittel zu irgendeinem – und sei es noch so wichtigen – Zweck, sondern Bindung eines Menschen an Gott oder eine göttliche Macht; an eine Dimension, aus der heraus ich mich angesprochen und geliebt erfahre, und der ich ebenfalls vertrauensvoll und liebend begegne. Religion ist Beziehung, und zwar zu einer Macht, die alles übersteigt, was diese irdische Wirklichkeit bieten kann, zu einem absoluten Du, zu dem ich Gemeinschaft aufbauen und mit dem ich in Gemeinschaft leben will. 

Der christliche Glaube bekennt sich zu Gott als dem, der alles aus Liebe erschaffen hat und am Leben erhält. Kern der christlichen Botschaft ist die Überzeugung, dass dieser Gott ebenso aus reiner Liebe Mensch geworden ist und in der gelebten Hingabe bis zum Äußersten am Kreuz ein für allemal bekundet hat, dass seine Liebe unerschöpflich ist. So erst wird Vergebung möglich, so erst macht Umkehr und der Versuch eines Neubeginns Sinn – und zwar persönlich und auch auf übergreifender Ebene, als Kommune, Land und Staat, als Europäische Union und als Weltgemeinschaft. Vom christlichen Glauben gingen und gehen bis heute wichtige Impulse im Sinne der Vergemeinschaftung für unsere Gesellschaft aus, und zwar ganz von selbst und ohne lauernde Hintergedanken. 

Dabei kann die Wirksamkeit des christlichen Glaubens immer nur so groß sein, wie es die Ernsthaftigkeit der Gläubigen im Sinne der Christusnachfolge ist. Wir wissen aus der Geschichte, dass Christen ebenso wie die Vertreter anderer Religionen nie davor sicher sind, die eigenen Positionen anderen aufzwingen zu wollen, in der vermeintlichen Überzeugung, nur so ließe sich eine gute Zukunft für die Menschen erreichen. Christusnachfolge aber meint nicht herrschen, sondern dienen, sich in den Dienst der Menschen stellen, so wie sich der Herr selbst zum Diener aller gemacht hat. Damit verbunden ist die feste Überzeugung, dass nicht die Zahlen entscheidend sind für die Wirksamkeit des Glaubens, sondern die persönliche Überzeugung und Bindekraft der einzelnen. Oder, um es ganz einfach auszudrücken: Es müssen nicht erst alle rechristianisiert werden, damit der Glaube seine Wirksamkeit entfalten kann und die Risse in der Gesellschaft gekittet werden können, die ja leider immer offensichtlicher werden. Es genügt auch, wenn eine kleinere Gemeinschaft, diese aber mit voller Überzeugung, in Verbindung mit dem lebendigen Gott steht und das Leben gestaltet. Dieses Beispiel geben uns die vielen kleinen christlichen Gemeinschaften, die weltweit wirken und oftmals von einer anders- oder ungläubigen Mehrheitsgesellschaft für ihr verbindendes Engagement geschätzt werden.

Wir erleben derzeit in unseren Regionen einen Abbau an kirchlichen Strukturen – zwar konfessionsübergreifend, aber deshalb nicht weniger schmerzhaft –, denn Abbau tut immer weh, weil vieles, was uns wichtig und vertraut war, in Zukunft so nicht mehr gelebt werden kann. Äußeres Zeichen dieses Abbaus ist sicher das Aufgeben von Gebäuden, die nicht mehr dauerhaft unterhalten werden können. So ist der Titel „Stadt ohne Kirchtürme“ ein gewiss provokanter Hinweis, aber doch nicht ohne inhaltliche Relevanz. Ganz sicher werden so schnell nicht die Türme der Sebaldus- oder der Lorenzkirche aus dem Stadtbild verschwinden; auch nicht der Frauenkirche oder die Kuppel von St. Elisabeth. Doch eine Aufgabe von Kirchengebäuden hat auch in Nürnberg schon begonnen, und wenn sich nicht grundsätzliche Veränderungen bei der Kirchenbindung vieler Menschen ergeben, wird es wohl nicht bei den bisher wenigen aufgegebenen Kirchen bleiben. Doch so traurig das im Einzelfall immer auch ist, so wenig dürfen wir uns von diesen Emotionen gefangen nehmen und lähmen lassen. Entscheidend bleiben immer die Menschen, nicht in erster Linie die Gebäude. Letztere dienen dazu, den Menschen, die weniger werden, einen Ort des Rückzugs und der Besinnung, der Stärkung und Auferbauung zu geben, und natürlich vor allem einen Ort, um die Geheimnisse unseres Glaubens zu feiern, die dann unser Verhalten prägen sollen und an unserem Umgang miteinander und mit den täglichen Herausforderungen und Problemen ablesbar werden müssen.

Eine Stadt ohne Kirchen wäre für mich eine angstmachende Vorstellung, gerade mit Blick auf die Erfahrungen aus der Geschichte. Eine Stadt mit weniger Kirchen, in denen aber dafür der Glaube gefeiert, bezeugt und weitergegeben wird, ein solcher Gedanke erfüllt mich mit Hoffnung und Zuversicht. Denn aus der gelebten Nähe mit dem Herrn können viele positive Früchte wachsen und sich ausbreiten. Gerade was die caritative Ausstrahlung betrifft, ist diese Pfarrgemeinde von St.Ludwig ein positives Beispiel für gelingendes christliches Leben. Und davon gibt es sicher – so bin ich überzeugt – noch viele andere. Hier wird die Religion zum Kitt der Gesellschaft, weil sie Menschen nicht ausgrenzt, sondern einschließt. 

In vielen Pfarrgemeinden wird der christliche Glaube an die jungen und an die alten Menschen weitergegeben, werden neue Konzepte erdacht, um die Kinder und Jugendlichen zu den Sakramenten zu führen. Es finden Bildungsangebote statt, nicht zuletzt natürlich in der Akademie Caritas Pirckheimerhaus. Die Kirchenmusik erreicht viele Menschen, die vielleicht nicht immer sich voll und ganz in der Kirche beheimatet wissen, aber sie öffnet den Horizont für eine Dimension, die unsere irdische Wirklichkeit übersteigt und eine Hoffnung vermittelt, die tragfähig und zukunftsweisend ist. Das alles und noch viel mehr sind die Kirchtürme, die das Leben und das Zusammenleben auch in dieser Stadt Nürnberg prägen, und die ganz entscheidend mit dazu beitragen, dass diese Gesellschaft den Kitt bekommt, den sie braucht, um die aktuellen Herausforderungen zu bestehen.

So steht der christliche Glaube auch nicht in Konkurrenz zu anderen Religionen, sondern er ermöglicht ein wachsendes Miteinander im Interesse aneinander und in der Wirksamkeit für die Menschen, die im Kern Gemeinschaftswesen sind und die auch Interesse daran haben, als Gemeinschaft zu wachsen und so eine tragfähige Zivilgesellschaft zu bilden.
Daran muss uns allen gelegen sein: Dass wir als Kirche mit allen Menschen guten Willens gemeinsam unterwegs sind, und dass wir so als Sauerteig wirken zum Aufbau des Reiches Gottes, und das heißt letztlich zum Heil und Segen aller Menschen.

Ich danke von Herzen allen, die sich haupt- und ehrenamtlich in Kirche hier vor Ort engagieren, in Weite und Größe des Geistes und des Herzens. Möge all dies Mühen und Sorgen nicht vergeblich sein, sondern reiche Früchte bringen.

Der heilige Sebaldus hat zu seiner Zeit als Einsiedler in der Einsamkeit der Wälder gelebt und Gott gesucht. Doch er wurde genau so und nicht anders zu einem gefragten Ratgeber für die Menschen seiner Umgebung und zum Patron dieser Stadt. Möge sein Vorbild und seine Fürbitte uns helfen, uns in allem zurechtzufinden, was heute düster und bedrohlich erscheint. Möge das Licht, das er vor vielen Jahrhunderten in den dunklen Wäldern hier aufstrahlen ließ, auch unser Leben und das aller Menschen guten Willens erleuchten. 

Denn dieses Licht ist Christus.